Ansprache des Gemeindevertretervorstehers Dr. Johann Siegl

Reichspogromnacht 9. Nov 1938 – 9. Nov. 2023 (85 Jahre)

Meine Damen und Herren,
als Repräsentanten und geschichtsbewusste Nauheimer, stehen sie hier, um an die von den Nazis so titulierte Reichskristallnacht zu erinnern. Der kommunale Aspekt, auch die Beleuchtung des Themas aus kirchlicher und religiöser Sicht, der menschlichen Tragödien konnten Sie bereits hören. Ich werde den geschichtlichen Aspekt und die Wirkmechanismen beleuchten mit der Fragestellung: Wie konnte es dazu kommen?

Dieser von den Nazis so titulierte nächtliche Zug von marodierenden Männern der SA und SS, welche bewusst als Zivilisten bekleidet waren, wurde als Volksaufstand gegen die Juden im Nazi Presseorgan dargestellt. Heute jährt sich der Pogrom zum 85. Mal. In der Nacht vom 9. November 1938 wurden Geschäfte geplündert, sowie ca. 1400 Synagogen und Gebetshäuser zerstört und angezündet. Etwa 300 Personen jüdischen Glaubens verloren das Leben. In jener Woche wurden ca. 30.000 Personen in Lager und Gefängnisse eingeliefert. An diese Nacht zu erinnern ist weniger eine Frage nach dem „mea culpa“. Vielmehr müssen die Mechanismen der Vorgeschichte analysiert werden, um vorbeugen zu können. Denn in dieser Nacht wurde eine Grenze überschritten. Die Diskriminierung schlug um in eine Bewertung, Ächtung und Verurteilung. Die im September 1935 von Hermann Göring im Reichstag verlesenen Blut- und Rassegesetze, das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, waren die rechtliche Basis für alles was folgte. Der Überfall von arabischen Palästinensern (Hamas) auf landwirtschaftliche Betriebe am 7. Oktober war ein gleichartiger Tabubruch. Die Mechanismen der Diskriminierung und Unterdrückung sind überall gleichartig. Das instabile Konstrukt der Aufteilung des Mandatsgebietes Palästina, welches 1947 willkürlich geschaffen wurde, erlebte eine Implosion. Die derzeit stattfindenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten sind für mich gleichfalls Anlass, die Mechanismen von Diskriminierung und Unterdrückung zu beleuchten. Der Nahe Osten ist seit Jahrtausenden als Transitregion und Vielvölkergebiet umkämpft. Die Bibel berichtet von Assyrern, Babyloniern, Persern, Ägyptern und Hethitern, welche hier eingefallen sind.

Nachdem die Römer im Jahr 63 vor Christus, diesen Landstrich erobert hatten, haben sie schnell gemerkt, dass dieser völkische Schmelztiegel ein instabiles Konstrukt ist. Um zu beruhigen haben sogar religiöse Führer bereitwillig vermeintliche Aufrührer der römischen Staatsmacht übergeben. Der Dialog zwischen Kaiphas, dem Hohen Priester, und Herodes, dem römischen Statthalter, zeigen dieses sehr transparent. 40 Jahre später begann der Jüdische Krieg. Im Jahr 70 n. Chr. ließ Titus den Staat, die Stadt Jerusalem und den Tempel des Salomon zerstören. Mit der endgültigen Vernichtung auf Masada waren die Juden heimatlos. Sie haben ihre Heimat verloren, ihre Sprache, Schrift und Religion nicht. Als sephardische und überwiegend askenasische Juden sind sie später inMitteleuropa eingewandert. Mehrsprachig waren sie Händler mit überregionaler Reichweite. Da sie kein produzierendes Handwerk innehatten, war ihre Lebensgrundlage immer ein Anlaß von Misstrauen, Neid und Missgunst. Die Besitztümer der Juden waren stets eine Verlockung. Auch für den NS-Staat, dessen Investitionen in die Streitmacht die Staatskasse über Gebühr belastete. Der Griff in die Taschen anderer Leute war schon immer eine beliebte Einnahmequelle. Wehret den Anfängen, sagten vereinzelt Leute vor 90 Jahren, als sie das hereinbrechende Unheil der Nazi-Diktatur erkannten.

Wer heute eine Zweiklassengesellschaft mit unterschiedlichen Rechtsgebilden, das Grundgesetz neben der Scharia akzeptiert, toleriert gleichzeitig eine Spaltung der Gesellschaft. Wenn unterschiedliche Rechtsgebilde nebeneinander praktiziert werden, kommt es zwangsläufig irgendwann zu einer Konfrontation und Auseinandersetzung. Wehret den Anfängen, als im September 1935, Hermann Göring die Nürnberger Rassegesetze verlas, hätte es einen Aufschrei der Entrüstung geben müssen. Stattdessen wurde gekuscht, auch um die eigene Existenz nicht zu gefährden. Es wurde zugesehen,wenn unbescholtene Nachbarn abgeholt wurden. John F. Kennedy hat später den Begriff Zivilcourage geschaffen. Zivilcourage erfordert zunächst eine Analyse und Bewertung der Situation. Uns Mitteleuropäern fehlt dazu meist das Wissen über den Nahen Osten.

Auf kleinster Fläche wohnen nebeneinander: Juden, Zionisten, Araber, Palästinenser, israelische Palästinenser, arabische Israelis, Westjordanlandbewohner, schafitische Muslime, Drusen, Beduinen, palästinensische Christen und orthodoxe Juden. Dazu die politischen Organisationen wie die Fatah (Palästinensische Autonomieregierung), die PLO (Palestinan Liberation Organization), Hisbollah, Hamas und die PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) auf der einen, sowie die vielen politischen Parteien der Knesset auf der anderen Seite. Wer all das unterscheiden kann, darf sich ein Urteil erlauben. Wer das nicht unterscheiden kann, möge es unterlassen, ihre Auseinandersetzungen nach Deutschland zu bringen. Unsere Aufgabe kann nur die der Vermittlung sein, nicht die der Bewertung und Stellungnahme.

Eine Stellungnahme wäre bei den Pogromen angemessen gewesen. Ebenso, wie in Gesamtdeutschland, wurde auch in Nauheim die Naziherrschaft ertragen, es wurde einfach weggeschaut. 18 Erinnerungssteine wurden verlegt. In der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sind im Gedenkbuch folgende Personen aus Nauheim aufgeführt, welche unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (1933-1945) umgekommen sind.

Wir gedenken heute:
Den Familien Marx mit Bernhard, Bertha, Erika, Friedrich, Margot, Mathilde, Siegfried und Sophie.
Der Familie Hugo und Johann Neumann, geb. Marx, sowie Fanny May, (geb. Haas) und Schenni (Jenny) Strauß

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


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