Aus der „guten alten Zeit“

 
Jahrhunderte trugen die Nauheimer ihre Verstorbenen den kurzen Weg vom Sterbehaus zur langen Ruh' — Friedhofsruhe — auf  Männerschultern vor dem Zug der Trauergemeinde her. Über 100 Jahre ist es in unserem Dorfe jetzt her, daß dieser alte Brauch selbst zu Grabe getragen, nein, gefahren wurde.

Am 12. April 1898 bestellten Bürgermeister Berz und sein Beigeordneter Peter Diehl bei der Firma Heinrich Görich in Langen per Vertrag einen sogenannten Leichenwagen. Die umwälzende Neuerung sollte auch in ihrer Ausführung der neuen Zeit entsprechen: der Oberbau mußte "aus gesundem trockenen risse- und astfreien Buchenholz" mit Füllungen "aus ebensolchem aus Silberpappelholz hergestellt"  werden. An den Achsen "mit geschlossenen Messingkapseln" und einer Federung mit "8 Ctr Tragkraft",  einem gepolsterten und abnehmbaren Sitz für den Fahrer, sowie genau vereinbarten Außen- und Innenmaßen. Als besonderes 'Extra'  "verpflichtet sich der Unternehmer für den Wagen zwei Laternen (Patent)" mitzuliefern, "welche zu beiden Seiten anzubringen sind".  Der Wagen war "frei an die Gemeinde zu liefern" und kostete 900,-- RM.

Der vereinbarte Liefertermin — spätestens zum 1.8.1898 — wurde wohl nicht eingehalten, denn erst am 14.9.1898 wurde die Stelle eines gemeindlichen Leichenwagenfahrers öffentlich versteigert. Den Zuschlag erhielt "als letzt- und wenigstfordender" Peter Diehl XII.,  "der für jede Fuhre drei Mark" forderte. Dafür verpflichtete er sich "bei jeder in der hiesigen Gemeinde vorkommenden Beerdigung, zu welcher Tageszeit sie auch sein mag, zu fahren" und "hierzu zwei Pferde zu stellen". Auch habe er „in anständiger dunkler Kleidung zu erscheinen" und außer dem Wagen selbst müßten auch "Pferde, Geschirr und Decken rein und sauber gehalten sein", dabei "ist der Huf der Pferde zu schwärzen".

der historische Leichenwagen

Peter Diehl XII. erneuerte 1909 seinen Arbeitsvertrag, von nun an aber  "für 4  Mark pro Leiche". Für Fahrten von und nach außerhalb, z.B. Klinikum Mainz oder Darmstadt, wurden die  Vergütungen  jeweils  vereinbart.

Wie lange P. Diehl die Verstorbenen noch zum Friedhof  Waldstraße oder dann auch zum Waldfriedhof  fuhr, ist nicht bekannt, aber lange vor und auch im II. Weltkrieg traten alle ihre letzte Fahrt mit Ernst Geyer aus der Mühlstraße 3 an. Sein Nachfolger und seit 1944 letzter Nauheimer Leichenwagenfahrer war bis 1952 der Landwirt Wilhelm Traiser aus der Vorderstraße. Ihm verdanken wir auch weitgehend, dass der inzwischen als veraltet geltende Totenwagen, der nun dem Automobil weichen mußte, nicht zerstört und weggeworfen wurde. Seiner Liebe zu dem alten Gefährt verdanken wir auch das Foto, zu dessen Anfertigung Wilhelm Traiser 1979 noch einmal mit viel privater Mühe und Aufwand  Wagen, Pferde und sich selbst in den alten, kaum noch bekannten Gebrauchszustand brachte und so der Nachwelt bewahrte, was sonst längst vergessen wäre.

W. Traiser berichtete auch: Zu jeder Beerdigung mußte man die eigene Arbeit im Stich lassen und mit ordentlichem Wagen pünktlich im Sterbehaus des Toten sein. Denn dieser blieb früher bis zur Beerdigung im Hause und wurde dann erst, nachdem ihn die Totenfrau gewaschen und eingekleidet hatte, vom Schreiner und seinem Gesellen in den Sarg gelegt. Den verschlossenen Sarg stellte man im Hof auf zwei Böcke, bis der Leichenwagen vorfuhr und auch der Pfarrer erschien. Dem überreichte ein Nachbarsmädchen auf einem Teller eine Zitrone und einen Rosmarienzweig. Es folgte die Verlesung eines Bibeltextes, ein Gebet und die Aussegnung des Aufgebahrten. Danach schob man den Sarg in den Leichenwagen und der fuhr gemessenen Schrittes  zum Waldfriedhof, wobei alle Kränze und Blumen auf dem Wagen liegend oder am Wagen hängend mitgeführt wurden.

Leichenwagen

Im Trauerzug lief als erster hinter dem Wagen ein Schreiner-Lehrjunge, gut gekleidet, z.B. im Konfirmanten-Anzug, mit dem fertig beschrifteten Grabkreuz. Ihm folgte der Pfarrer im Talar und mit der Bibel unterm Arm, dann die nächsten Angehörigen des Verstorbenen, dann die etwas entfernteren Verwandten, die Nachbarn, usw. in loser Folge.

Der Brauch ist vergangen, ja fast schon vergessen. Den über 100jährigen Nauheimer Leichenwagen aber kann man in der Remise des Nauheimer Museums als eine große, fast schon einmalige Museums-Rarität besichtigen.

Quelle: Harald Hock, Nauheim

Symbole auf dem Leichenwagen

Symbole auf dem Leichenwagen:

Nr. 1 = Das Kreuz = Bedeutet im Christentum den Erlösertod Jesu
Nr. 2 = Die Sanduhr = gemahnt (erinnert) an die Vergänglichkeit der Zeit
Nr. 3 = Der Anker = Sinnbild der Zuversicht, dass wir im Glauben Halt finden werden.
Auf dem Wagen sind noch Palmwedel und Lorbeerkränze aufgetragen. Diese bedeuten:
Palmwedel = wird die Märtyrerglorie gefeiert und der Sieg über den Unglauben
Lorbeerkranz = hingegen steht für Ruhm und Unsterblichkeit.
Und natürlich der Stern = Der vom Himmel gefallene Stern bedeutet die gefallenen Engel, der sinkende Stern die nahe Nacht der Hölle. Der aufgehende Stern ist dagegen Verkünder des Morgens, des neuen Lichts und Segens, Sinnbild des Heilandes oder seiner Mutter Maria.

Quelle: Lothar Walbrecht, Nauheim

Videoclip


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