Das Schicksal der jüdischen  Nauheimer zwischen 1933 und 1945

 

Eine Leseprobe aus der Dokumentation von Karl-Heinz Pilz

 

Familie Ludwig und Auguste Strauss mit den Kindern Walter und Erna-Betty,
wohnhaft in Nauheim, Hintergasse 13.

Ludwig Strauss, geboren am 6.1.1879 in Astheim und seine Frau Auguste, geb. Marx, geboren am 26.03.1885 in Reichelsheim/Odenwald, wohnten bis zum November 1933 in Nauheim, im Haus Hintergasse 13. Herr Ludwig Strauss besuchte zunächst die Volksschule in Astheim. Danach wechselte er an die Realschule nach Groß?Gerau und schließlich auf das Realgymnasium nach Darmstadt bis zum so genannten Einjährigen. Danach war Ludwig Strauss Lehrling in einem Textilwarengeschäft in Frankfurt. Im Jahre 1920 zog Ludwig Strauß mit seiner Frau Auguste in das Haus Hintergasse 13. In dem Haus Rathausstr. 12, gründete er mit seinem Vater Abraham Strauss ein Viehhandels- und Landesproduktgeschäft. Es war ein typischer Beruf für einen Juden vom Lande. Juden durften viele Jahrhunderte kein Land besitzen und waren auch von vielen Berufen ausgeschlossen. Darum wurden die meisten von ihnen Händler. Sie verkauften Vieh, Getreide und andere landwirtschaftliche Produkte. Die Händler zogen von Dorf zu Dorf und boten ihre Waren aus dem Bauchladen oder von ihren Wagen aus an. Die Nauheimer hatten zu dieser Zeit nur selten Gelegenheit in einer großen Stadt etwas einzukaufen. Ludwig Strauss war dann auch der letzte Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Nauheim. Auch nach dem Tod des Vaters Abraham Strauss am 30.5.1928 hatte Ludwig Strauss ein gutbürgerliches Auskommen das bis 1933 erhalten blieb. Erst dann ging durch die nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen das Geschäft immer mehr zurück. Ludwig Strauss und seine Frau Auguste wurden dann zu Opfern des November-Pogroms im Jahre 1938. In einem Brief nach dem 11. Weltkrieg, vom 8. Juni 1947 aus St. Louis, USA, bittet der Sohn Walter Strauss den Bürgermeister der Gemeinde Nauheim rechtlich gegen die Übeltäter vorzugehen. Walter Strauss schilderte: "Am 10. 11. 1938 drangen Schulkinder in ihr Haus ein, haben die Mutter Auguste herausgezerrt und sie auf der Strasse misshandelt. Der damalige Bürgermeister Ruckes und andere Gemeindebedienstete standen dabei und haben nichts dagegen unternommen. Der Vater Ludwig Strauss kam sogar ins Nauheimer Gefängnis, wurde aber nach einer Nacht wieder freigelassen, weil er schon die Ausreisepapiere nach Amerika hatte". Bürgermeister Heinrich Kaul IV. gab den Brief am 17.6.1947 an seine vorgesetzte Dienststelle weiter, hat jedoch davon nie wieder etwas gehört.

Für den während des Pogroms von den Nationalsozialisten angerichteten Schaden wurden nun die Juden zur Verantwortung gezogen und zu einer "Sühnezahlung " von 1 Milliarde Reichsmark verurteilt. Das war aber nicht alles. Ab 15.11.1938 wurden jüdische Kinder von dem allgemeinen Schulbesuch ausgeschlossen und am 3.12.1938 wurden alle jüdischen Führerscheine eingezogen. Außerdem erfolgte am 13.12.1938 eine Verordnung über Zwangsveräußerung ("Arisieriing") jüdischer Gewerbebetriebe lind Grundstücke sowie ein Depotzwang für Wertpapiere. Ab 01.01.1939 müssen männliche Juden ihrem Vornamen den Namen" Israel" hinzufügen lind die Frauen den Namen "Sara".

Die Kinder von Ludwig und Auguste Strauss gingen eigene Wege. Erna-Betty Strauss, geboren am 11. 11. 1910 in Nauheim, verzog am 6.2.1934 nach Eckertshausen und am 13.8.1934 von dort nach Bad Kreuznach. Im Jahre 1935 wanderte sie in die USA aus. Im Juni 1964 wohnte sie in Detroit, Michigan, 16141 Woodingham. Von ihrem Bruder Walter Strauss, geboren am 27.10.1911 in Nauheim, wissen wir etwas mehr. Sein Lebenslauf, verglichen mit dem seiner deutschen Mitbürger, unterschied sich nur in einigen Phasen. Aus seiner eidesstattlichen Erklärung vom 22. Februar 1958 an das Bundesentschädigungsamt geht hervor, dass er von 1918 bis 1921 die Volksschule in Nauheim besuchte. Anschließend ging er auf das Gymnasium in Groß?Gerau bis zur Untersekunda (10. Klasse) im Jahre 1927. Im selben Jahr trat er bei der Firma B. Mayer & Co., einem Papiergroßhandel in Mainz, als kaufmännischer Lehrling ein. Nach dreijähriger Lehrzeit wurde Walter Strauss als kaufmännischer Angestellter übernommen. Im Jahre

1932 verließ er diesen Arbeitgeber und machte sich in der Papierbranche selbstständig. Er handelte mit Verpackungsmaterial wie Papiertüten, Schachteln etc. und hatte einen Kundenstamm, der sich von Groß-Gerau bis nach Rüsselsheim und Höchst erstreckte. Die Lieferungen führte er meistens mit dem Fahrrad aus. Dadurch hatte er auch engen Kontakt zu Wendel Voltz, der in Nauheim eine Maschinen? und Eisenwarenhandlung an der Landstraße von Groß-Gerau nach Bischofsheim unterhielt. Wendel Voltz führte auch öfters Reparaturen am Fahrrad von Walter Strauss durch. Einem Juden in dieser Zeit behilflich zu sein, war nicht ungefährlich. Wendel Voltz fiel durch verschiedene andere Hilfeleistungen, die er Juden gegenüber erbrachte auf und die örtlichen Behörden prangerten ihn öffentlich auf Anschlagtafeln als Judenknechte an. Als er seine Hilfeleistungen nicht einstellte, wurde er zu 18 Wochen Schutzhaft im damaligen Militärgefängnis in Darmstadt, Riedeselstr. 64, verurteilt. Auch in Nauheim gab es, wie wir schon gehört haben, Menschen, die mit dem Schicksal der Juden nicht einverstanden waren. Man soll aber auch nicht darüber hinwegsehen, dass es eine schweigende Mehrheit gab, die die Vorgehensweise der Nazis unterstützt hat. Für Walter Strauss wurde die Situation immer schlechter und im April 1936 folgte er seiner Schwester Erna Betty in die USA. Er fuhr von Nauheim nach Paris, von dort nach Cherbourg und dann mit der "Cunard-Schiffs?Linie" nach New York. Von da ging es nach St. Louis 14, wo er in der Melrose Avenue 7570 Wohnung nahm. Da er die Sprache nicht verstand und die dortigen Sitten und Gebräuche nicht kannte, bekam Walter Strauss in seinem Beruf als Kaufmann keine Anstellung und musste einen Job als schlecht bezahlter Fabrikarbeiter annehmen.

Die Lebensverhältnisse der jüdischen Bürger wurden von den Machthabern in Deutschland immer mehr eingeengt. Die jüdischen Eltern werden sicher ihre Kinder angehalten haben so schnell wie möglich Deutschland zu verlassen. Vielen wird es sehr schwer gefallen sein die Reise für die Kinder zu finanzieren. Für die Eltern selbst reichte es in den meisten Fällen nicht, das Geld für ihre eigene Ausreise aufzubringen. Viele Eltern waren sowieso der Meinung, dass der Nazi-Spuk bald vorbei wäre und die Zeiten sich wieder ändern würden.

Ab November 1933 wurde das Haus von Ludwig Strauss in der Hintergasse 13 von einem deutschen Käufer bezogen und Ludwig und Bertha wohnten dann bei den Schwestern Ida und Schenni von Ludwig Strauss in der Rathausstr. 12. Er konnte seinem Beruf als Viehhändler und Schächter nur noch selten nachgehen und arbeitete zwischendurch auch bei der Firma Faulstroh in Groß-Gerau. Auch das Haus Rathausstr. 12 ging 1936 von der Bezirkssparkasse Groß?Gerau über an einen deutschen Käufer. Sie mussten nun in dem Haus manche Drangsal erleiden, so wurde ihnen Geld aus dem Schlafzimmer gestohlen und sie wurden für andere Sachen, wie das Durchschneiden von Fahrradreifen des Hausherrn, verantwortlich gemacht, wie Walter Strauss am 8.6.1947 angab. In einer eidesstattlichen Versicherung vom 22. Juli und 8. Dezember 1962 erklärte ihr Sohn Walter Strauss, dass die Eltern Deutschland im Dezember 1938 über Hamburg verlassen haben. Ein Schiff der Reederei "Hapag-Lloyd AG" brachte sie nach New York, wo sie von ihrem Sohn abgeholt wurden. Seit dem Jahre 1937 hatte Ludwig Strauss nichts mehr verdient und so musste sein Sohn Walter die Passagekosten in US-Dollar vorstrecken. Auch in St. Louis/USA hatte Ludwig Strauss Schwierigkeiten eine Stellung zu finden, weil er schon älter war und die englische Sprache nicht verstand. Er arbeitete später auf dem Sinai-Friedhof von St. Louis für ein geringes Einkommen. Am 9. Januar 1947 fuhr ihn, auf dem Weg zur Arbeit, ein Auto an und verletzte ihn tödlich. Seine Frau Auguste Strauss starb am 26. Mai 1953 in St. Louis und ihr Sohn Walter 90-jährig am 4.7.2002 ebenfalls in St. Louis.

Schenni und Ida Strauss, die Schwestern von Ludwig Strauss, wohnhaft in Nauheim, Rathausstr. 12.
Schenni Strauss wurde am 30.4.1880 in Astheim geboren. Sie diente als Hausangestellte, war ledig und wohnte mit ihrer Schwester Ida, geboren am 26.7.1883 ebenfalls in Astheim, in dem von ihrem Vater Abraham Strauss gekauften Haus Rathausstrasse 12 in Nauheim. Die beiden allein stehenden Schwestern hatten keinen leichten Stand und mussten viele Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. In den Jahren der Nazizeit waren sie oft Ziel des Spotts der Nauheimer Schulkinder. Ida Strauss, lebte vom Hausieren mit Stoffen, Wolle und anderen Kurzwaren. Sie soll am 4.4.1935 in Nauheim verstorben sein.

 


Groß-Gerau judenfrei!
Als letzter verschwand der dreckige "Schachteljud"

Der einzige Hebräer, der sich noch in der Kreisstadt herumtrieb, der Jude Strauss, allgemein unter dem Namen "Schachteljud" bekannt, ist nun endlich weggezogen. Dieser lästige Jude hat bis zuletzt versucht, bei den Volksgenossen seinen stets in einer Schachtel mitgeführten Dreck loszuwerden. Nun ist er nach Frankfurt "ausgewandert". Damit ist Groß-Gerau judenfrei. Die Stadt hat vor der Machtübernahme durch den Führer über 140 Juden beherbergt. Die Juden besaßen bereits im 13. Jahrhundert in Groß-Gerau einen Friedhof zwischen dem Galgenberg und dem Stadttor in der Nähe der heutigen Hassia-Käserei Petermann in der Helwigstraße. Sie mussten damals für jeden Rassegenossen, den sie dort begruben, einen Goldgulden an den Zentgrafen bezahlen. Nach der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts, die einen Sieg der Juden über die arische Bevölkerung darstellte, trat das Unglück ein, das unsere Vorfahren verhütet hatten. Groß-Gerau darf sich glücklich preisen, den letzten Juden losgeworden zu sein. Es ist interessant, festzustellen, dass sich im gesamten Kreisgebiet noch rund 120 Zionsverteidiger aufhalten. Aber auch diese letzten Reste werden bald der Vergangenheit angehören.

Auszug aus der "Hessischen Landeszeitung" vom 29. Juni 1939.

 

Die 50seitige Broschüre ist im Nauheimer Bürgerbüro, Weingartenstraße 46-50, 64569 Nauheim, Tel. 06152 639219, für 4,50 Euro erhältlich.