Das Schicksal der jüdischen  Nauheimer zwischen 1933 und 1945

 

Eine Leseprobe aus der Dokumentation von Karl-Heinz Pilz

 

Familie Hugo und Johanna Neumann,
ihre Kinder Else Mayer und Kurt Siegfried Neumann, sowie die Mutter von Johanna, Elise Marx, geb. Mannheimer, wohnhaft in Nauheim, Hintergasse 2.

Hugo Neumann, geboren am 11.2.1883 in Neu-Klonkwitz/Westpreußen, heiratete die Witwe Johanna Mayer, geboren am 4.5.1885, deren erster Mann Jakob Mayer aus Reichenbach im Odenwald stammte und am 1. Weltkrieg als Landsturmmann teilnahm. Er fiel am 20.6.1918 an der Westfront, war Träger der Hessischen Tapferkeitsmedaille und des Eisernen Kreuzes II. Klasse und fand seine letzte Ruhe auf der Kriegsgräberstätte in Belleau (Frankreich), Block 3, Grab 688. Bis 1906 war in diesem Haus, Hintergasse 2, auch der Betsaal der jüdischen Gemeinde Nauheim, bis er dann im Jahre 1907 ins Haus von Levi Haas, Nauheim, Hintergasse 25, verlegt wurde. Levi Haas war der 1. Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Nauheim und mit einem Schreiben vom 25.10.1906 an das Großherzogliche Kreisamt bat er um 225 Mark aus dem vorhandenen jüdischen Barvermögen, um einen Betsaal, im 1. Stock seines Haus einrichten zu können. Dem Wunsch wurde stattgegeben und der gewünschte Betrag wurde an die jüdische Gemeinde Nauheim ausbezahlt.

Doch schon im Jahre 1908 verstarb Levi Haas und die Besitzverhältnisse änderten sich einige Zeit später und das Haus wurde von einer Erbengemeinschaft vermietet, die in Gräfenhausen, Steinstraße 15, ihren Wohnsitz hatte. Im Jahre 1937 wurde das Haus an eine nichtjüdische Nauheimer Familie endgültig verkauft.

Ein Mitglied dieser Erbengemeinschaft, Frau Fanny Haas, geboren am 2.11.1864 in Nauheim, hatte am 21.3.1887 in Gräfenhausen den Metzger Bernhardt May, geboren am 5.5.1862 in Gräfenhausen, geheiratet, der aber vor der Abschiebung 1940 verstarb. Die Witwe, Frau Fanny May, wurde am 12.11.1940 nach Frankfurt abgeschoben und wohnte zuletzt in der Rückertstr. 49. Am 18.8.1942 wurde sie im Alter von 78 Jahren bei der siebten großen Deportation aus Frankfurt mit dem Zug Nummer "Da 503" in das Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und ist dort am 03.09.1942 verstorben.

Im Lager selbst ist zwar nicht systematisch gemordet worden, aber viele Gefangene wurden totgeschlagen. Einer der schlimmsten dieser Totschläger war der von uns so gefürchtete Heindl, ein Wiener. [ ... ] Siebzehn unserer Mithäftlinge wurden öffentlich in einem Kasernenhof aufgehängt, nur weil sie versucht haben, Nachrichten an ihre Familien, von denen sie annahmen, dass sie noch in Prag lebten, hinauszuschmuggeln. Unter den Ermordeten war ein Junge, siebzehn Jahre alt, der eine Karte an seine Mutter mit den Worten geschrieben hatte: „Ich habe Hunger!" Diese drei Worte, welche der Junge seiner Mutter geschrieben hatte und wofür er aufgehängt wurde, bildeten die Tragik des Lagers. ... Kinder und Erwachsene, steinalte Menschen, die sich nur mühsam fortbewegen konnten, Männer, einst in Amt und Würden, durchsuchten täglich den in der Nähe der Kasernen deponierten stinkenden Müll und die Küchen nach Essensresten, nach Kartoffelschalen.
Der Sohn von Fanny May, geb. Haas, Rudolf May, geboren am 26.10.1889 in Darmstadt, wohnte mit seiner Familie in Düdelsheim, zeitweise auch in Darmstadt, Bachgasse 1. Am 21.6.1937 zog die Tochter Ilse, geboren 1922, nach Alten-Buseck. Ende November 1938 fand sich die Familie wieder in Frankfurt, Joseph-Haydn-Straße 37 (heute Mendelssohnstraße). Ohne jegliche Vorwarnung fand am 20.10.1941 in Frankfurt die erste Deportation aus Hessen statt, die mehr als 1.125 Menschen betraf. Darunter war auch Rudolf May mit seiner Frau, die am 22.3.1891 als Klara Siegel in Hergershausen geboren wurde, sowie ihre 19-jährige Tochter Ilse May. Am 19.10.1941, um 6 Uhr früh klingelte es, zwei SA-Männer und ein Gestapomann standen vor der Tür. „Packen Sie ein, was sie in zwei kleinen Koffern tragen können. Bitte seien Sie in zwei Stunden abmarschbereit". Der Deportationszug, der erst am frühen Morgen des 20.10.1941, einem Montag, vom Frankfurter Ostbahnhof abfuhr, kam am Dienstag im Ghetto Lodz/Litzmannstadt/Polen an. Nur zwei Personen dieses Transportes überlebten den Holocaust. Die Verhältnisse im Ghetto waren menschenunwürdig und vordringlich darauf angelegt, seine Insassen durch Hunger, Krankheit und Überarbeitung zu zerstören. Auch Rudolf May starb unter diesen Umständen im Februar 1942. Bis zum Jahresende 1942 sind innerhalb des Ghettos Litzmannstadt 4 261 Sterbefälle bei den Juden aus dem „Großdeutschen Reich" registriert worden. Auch Klara May und Tochter Ilse kamen dort ums Leben. Ein genaues Todesdatum ist nicht zu ermitteln. Zwischen dem 4. und 15. Mai 1942 wurden 10 000 Juden, darunter auch Personen aus dem Transport aus Frankfurt, zum Todeslager Chelmno/Kulmhof transportiert und dort umgebracht. Das Schicksal der zweiten Tochter von Rudolf May, Rosel, ist nicht zu klären. Sie wurde angeblich in Auschwitz ermordet. Fanny Mays zweiter Sohn, Simon May, geboren am 12.8.1888 in Darmstadt, wurde von Gräfenhausen am 12.11.1940 nach Frankfurt verbracht. Er soll 1941 in den Osten deportiert und dort umgekommen sein. Näheres ist nicht bekannt. Den Geschwistern von Fanny May, Leopold Haas (geb. 12.11.1843 in Nauheim, gest. 8.1.1909) und Jettchen Haas, (geb.1838 in Nauheim und gest. 6.8.1915), blieb dieses Schicksal erspart.

Zurück zu den Neumanns. Der Sohn von Hugo Neumann, Kurt S. Neumann, geboren am 24.10.1922 in Nauheim, zog im April 1937 nach Frankfurt/Main, Obermainanlage. Er wollte sich in der Rabbinischen Lehranstalt Frankfurt auf den Beruf als Rabbiner vorbereiten. Im November 1938 musste er auf Geheiß der Nazis das begonnene Studium aufgeben und erhielt im Februar 1939 eine Ausreisegenehmigung nach England . Die Reisekosten übernahm sein Vater Hugo Neumann, der in Nauheim ab 1907 ein sehr gut gehendes Manufakturwarengeschäft mit einem großen Warenlager besaß, was vom Nauheimer Bürgermeister Georg Schad mit Schreiben vom 7. November 1958 bestätigt wurde.

Im Geschäft tätig waren außer seiner Frau auch deren Tochter aus der ersten Ehe, Eise Mayer, geboren am 9. Juni 1911 in Nauheim. Da sie ein ständiges Dienstmädchen für den Haushalt hatten, war dies möglich. Nachdem der Sohn Kurt S. Neumann in Großbritannien keine Arbeitserlaubnis bekam, wanderte er im Mai 1940 nach New York 33/USA aus und wohnte dort am 68 Cabrini Boulevard.

Er kam zu Kriegsende mit der amerikanischen Armee als Sergeant und Dolmetscher nach Deutschland zurück. Im Dezember 1988 gab er in New York folgendes Interview über seinen Vater Hugo: "Mein Vater war Hausierer und hatte ein kleines Geschäft in der Hintergasse 2 in Nauheim und meine Mutter Johanna stand hinter dem Ladentisch. Aber die Bauern aus Nauheim benötigten nicht viel, vielleicht ein Hemd oder ein paar Hosen im Jahr. Davon konnte man nicht leben und deshalb ging mein Vater mit seinen schweren Koffern beladen nach Mainz-Kostheim, um an die dortigen Industriearbeiter seine Artikel zu verkaufen. Die Arbeiter hatten ein bisschen Geld, aber sie kauften meistens auf Abzahlung. Er ging früh morgens los und kam erst spät nachts zurück. Als die Nazis an die Macht kamen, sagten sie, die Juden würden die Maul- und Klauenseuche übertragen. Zuerst schrieben sie die Namen der Kunden auf und etwas später wurde den Menschen verboten bei Juden zu kaufen. Zu diesem Zeitpunkt war es schon schwierig den jüdischen Gottesdienst abzuhalten. Es waren zehn erwachsene Männer dazu notwendig und die waren in Nauheim nicht mehr vorhanden. Meine Eltern luden dazu polnische Juden aus Mainz ein. Sie übernachteten in unserem Hause oder später bei Anna in einem Gasthaus ("Zum Hirsch") in der Nähe der Bürgermeisterei und meine Eltern übernahmen die Kosten dafür. In der Kristallnacht 1938 wurden auch meine Eltern aus dem Haus geholt und durch die HJ misshandelt. Vorher hatte man das verschlossene Hoftor überklettert und das Haus gestürmt. Der Nachbar Philipp Dammel, Hintergasse 5, gebot Einhalt und schlug mit der Peitsche auf die Übeltäter ein, ohne sich über die Konsequenzen klar zu sein, die hätten folgen können. Aber es geschah nichts. An diesem Tag wurde auch mein Vater festgenommen und in das Nauheimer Gefängnis geworfen. Mein Vater kam nur dadurch wieder frei, dass er angab er hätte Herzbeschwerden. Der hinzugezogene ortsansässige Arzt, ein großer Nazi, hatte Mitleid mit meinem Vater und entschied auf Entlassung".

Kurt Siegfried Neumann starb am 3.10.1997, im 75. Lebensjahr, in New York.
Auch die Tochter Else Mayer gab am 16. Mai 1962 eine eidesstattliche Erklärung ab, in der sie darauf hinwies, dass alle jüdischen Geschäfte ab 1933 sehr zurückgingen. An ihrem Haus musste ein Schild angebracht werden: „Jüdisches Geschäft". Obwohl Neumanns beliebt waren, fürchtete sich die Kundschaft bei ihnen zu kaufen, da das Geschäft direkt neben der Bürgermeisterei lag und genau beobachtet wurde, wer ein- und ausging. Die Umsätze gingen rapide zurück und das Geschäft kam im Jahre 1935 ganz zum Erliegen. Auch die Außenstände konnten nicht mehr eingetrieben werden und das noch vorhandene Warenlager musste man zu Schleuderpreisen veräußern. Ab diesem Zeitpunkt hat Hugo Neumann keine berufliche Tätigkeit mehr ausgeübt.

Die Tochter aus erster Ehe von Frau Johanna Mayer, Else Mayer, zog 1935 nach Darmstadt und arbeitete bei der Firma M. & J. Strauß bis Mitte 1937. Danach war sie bei der Firma Bijouterie (Schmuckgeschäft) Wilmersdörfer in Darmstadt beschäftigt bis zur Reichskristallnacht am 10.11.1938. Sie zog dann mit ihren Eltern 1939 nach Darmstadt in die Kasinostraße 14. Da es in Deutschland als Jüdin unmöglich war, wieder eine Arbeitsstelle zu erhalten, beschloss sie auszuwandern. Zuerst musste sie zum amerikanischen Konsulat nach Stuttgart, um ein Einreisevisum für Amerika zu erhalten. Dann fuhr sie im Mai 1940 mit der Bahn von Darmstadt bis Genua/Italien. Sie hatte dort vier Tage Aufenthalt und es gelang ihr mit dem Auswandererschiff "SS Washington" der United-Staates-Linie nach New York zu fahren. In Deutschland war es nun für Juden unmöglich ein Ticket nach USA zu bekommen und so musste Ihre Verwandte, Frau Irene Kahn, geborene Oppenheimer aus Brattleboro, Neuengland/USA, die Passage in Dollar vorlegen. Else Mayer zahlte das Geld ihren Verwandten nach der Ankunft in Amerika nach und nach zurück. Sie bezog in New York 33 eine Wohnung in 612 West 178. Street und verheiratete sich in den USA mit einem Herrn Linz.

Else Mayers Großmutter Elise Marx, geb. am 12.9.1858, geborene Mannheimer, starb am 13.4.1935 und liegt auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau begraben.

Hugo Neumann und seine Frau Johanna hatten ein schlechteres Los zu tragen. Johanna Neumann hoffte immer noch, dass der Tod ihres ersten Mannes im 1. Weltkrieg sie und ihren zweiten Mann Hugo Neumann vor der Deportation schützen könnte. Am 12. Juli 1939 wurde ihr Haus Hintergasse 2 verkauft und auf Veranlassung der Gestapo und Anraten des Nauheimer Bürgermeisters, der seinen Ort "judenrein" haben wollte, musste das Ehepaar Neumann Ende 1939 nach Darmstadt in die Kasinostraße 14 ziehen. Sie litten dort große Not, denn sie mussten ihr Haus unter Zwang verkaufen und der Erlös von Häusern kam nach 1938 auf Sperrkonten, die den Juden nicht zugänglich waren. In den "Wiedergutmachungsforderungen" von 1947 wurde der unter Zwang bemessene Wert des Hauses veranschlagt, und bis dieser Betrag endlich den Exilanten erreichte, hatte die Währungsreform 1948 in der Bundesrepublik zu einer erneuten Entwertung beigetragen. Die Not der Neumanns linderte aber die Tochter der Bauersleute Dammel aus der Nauheimer Hintergasse 5. Sie versorgte sie ? auf eigene Gefahr ? alle 14 Tage in den Jahren 1939/40 mit Lebensmittel, so gut es eben ging, bis die Neumanns sie baten, das nicht mehr zu tun, um das große Risiko der Verhaftung des Mädchens zu vermeiden. Von Dammels lebt heute leider niemand mehr. Hätte jemand nach dem Krieg über ihre gute Tat öffentlich berichtet, wären sie sicher ausgezeichnet worden. Erinnert sei dabei u.a. an den bekannten Frankfurter Oberliga?Schiedsrichter Karl "Moppel 4 & Alt, der 1954 das Endspiel um den Hessenpokal SV 07 Nauheim ? SpVgg. Neu-Isenburg (3:2) leitete. Er unterstützte jüdische Bürger in der Nazi-Zeit und wurde 1995 mit der Johanna?Kirchner? Medaille geehrt. Johanna Kirchner, die 1889 geborene Frankfurter Hitler-Gegnerin, wurde am 9.6.1944 im Gefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Auf Anraten ihrer Kinder hatte das Ehepaar Neumann Reisepässe für die USA beantragt, aber durch die Kriegserklärung von Deutschland an die USA am 11. 12.1941 war eine Ausreise dorthin nicht mehr möglich.

Am 18. März 1942 erschien ein Gestapomitarbeiter mit zwei Polizisten in der Wohnung des Ehepaares Neumann in Darmstadt und legte ihnen eine "Staatspolitische Verfügung" vor, nach der sie innerhalb von drei Stunden die Wohnung zu verlassen hätten. Es wurde ihnen eröffnet, dass sie vorläufig zum Zwecke der Abschiebung verhaftet seien. Bei Nichtbefolgen hätten sie mit schwersten staatspolizeilichen Maßnahmen zu rechnen. Sie mussten alles zurück lassen.

Hugo und Johanna Neumann wurden genau wie die Familie Marx in das Sammellager JustusLiebig-Oberrealschule" Darmstadt gebracht. Bei diesen Aktionen waren nicht nur sämtliche Exekutiv- und Verwaltungsbeamte der Gestapo, sondern auch fast alle verfügbaren Kräfte der Kriminalpolizei, Gendarmerie und Schutzpolizei eingesetzt. In der Schule mussten sich die Frauen bis auf die Schuhe ausziehen und wurden dann in einem Nebenraum von Frauen durchsucht. Die Männer wurden in einem anderen Raum auf dieselbe Weise von Beamten untersucht. In den einzelnen Klassenräumen war anstelle von Matratzen Stroh aufgeschüttet, auf dem die Juden schlafen mussten. Wenn ein SS?Mann in den Raum kam, mussten alle stramm stehen. Ältere sind dabei oft umgefallen und wurden dann verprügelt. Die Verpflegung der Juden während ihres Aufenthaltes in der Schule wurde durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt durchgeführt, die 1932 gegründet wurde. Die Bewachung des Schulgebäudes hatte die Schutzpolizei, die zu diesem Zwecke mit Gewehren ausgestattet wurde. Dort wurde auch die Fiktion der Umsiedlung durch die bürokratische Abwicklung gewahrt, für die man in verschiedenen Räumen der Schule Sonderdienststellen der Finanz?, Wirtschafts? und Justizverwaltung installiert hatte, bei denen alle Juden durchgeschleust wurden. eine Prozedur. die vor allem der Feststellung zurückgelassener Vermögenswerte diente Man kann sich leicht vorstellen in welcher seelischen und körperlichen Verfassung diese Personen waren. Viele hatten ihre Heimat noch nie verlassen und standen nun vor einer ungewissen Zukunft. Ihr Vermögen war ihnen genommen worden, sie hatten so gut wie nichts. Die meisten von Ihnen hatten auch keine Möglichkeit sich von ihren Kindern oder sonstigen Verwandten verabschieden zu können. Viele werden noch einen letzten Brief geschrieben haben, wie ein Beispiel zeigt, indem sich ein Vater von seinem 16 jährigen Sohn verabschiedete, der bereits in die Schweiz emigriert war: " Sei stark und behalte Dein Gottvertrauen, wie auch wir es sein wollen. Am Mittwoch verreisen wir und werden Dir, sobald es uns möglich ist, schreiben. Bis dahin bete für uns und habe Geduld. Lerne fleißig weiter, dass wir später eine Stütze und einen Trost an Dir haben. Vergiss uns nicht, bete für uns und trachte ein brauchbarer, tüchtiger Mensch zu werden. Heute nur noch meinen Segen, mein lieber Bub: "ER segne Dich, der Ewige, und behüte Dich! ER lasse leuchten, Der Ewige, Sein Antlitz Dir und sei Dir gnädig! ER erhebe, der Ewige, sein Antlitz Dir und gebe Dir Frieden, Amen". Sei innig und tausendmal herzlich geküsst, bis zum letzten Atemzug bin ich Dein Dich innig liebender Papa". Ob auch Neumanns oder Marxs noch einen Brief schrieben, wissen wir nicht.
Am 25.3.1942 wurden die Juden zum Darmstädter Güterbahnhof getrieben. Wenn sie nicht mehr weiter konnten, wurden sie mit Stockschlägen wieder hoch geprügelt. Die mit akribischer Sorgfalt geführte Kopie der Transportliste fand der Autor bei seinem Besuch im September 2006 im Dokumentationszentrum des Vernichtungslagers Majdanek. Daraus war zu entnehmen, dass die Nauheimer Juden Kurt und Johanna Neumann unter der Transportnummer 121/122 und das Ehepaar Bernhard und Bertha Marx mit ihren Töchtern Erika und Margot unter den Nummern 794 bis 797 auf den Transport gingen.
Der "Gesellschaftssonderzug zur Beförderung von Arbeitern", wie der Zug Nummer "Da 14" offiziell hieß, war bei der Reichsbahn zu Beginn des Monats März 1942 von Darmstadt nach Trawniki/Polen für den 25. März 1942 bestellt. (In vielen Unterlagen wird dieser Zug fälschlicherweise mit dem Abmeldedatum vom 20. März 1942 genannt!). Zunächst fuhr der Zug nach Lublin, wo am Bahnhof "Alter Flughafen" ca. 100 bis 150 kräftige Personen für den Arbeitseinsatz im Vernichtungslager Majdanek ausgewählt wurden. Später wurden diese Personen ebenfalls vergast oder erschossen und anschließend im Krematorium verbrannt. Dann ging es weiter und am 27. März 1942 kam der Zug mit tausend Personen in Trawniki an. Es ist nicht schwer sich vorzustellen in welcher Verfassung die Insassen nach drei Tagen Zugfahrt waren. Der Wasservorrat in den verplombten Wagen war häufig nicht ausreichend für diese langen Strecken. Im Winter waren die Juden eiskalten Temperaturen ausgesetzt und im Sommer unheimlicher Hitze und erstickendem Gestank. Mit Peitschen und Ruten wurden sie von SS?Leuten aus den Waggons getrieben. Vom langen Sitzen, eng aneinander gepfercht, waren die Menschen kaum in der Lage, von den hohen Trittbrettern der Waggons herab zu springen. Sie wurden hinunter getreten, gestoßen und geschlagen. Man hörte nur noch das Schreien der SS, das Klatschen der Schläge und das Wimmern der Betroffenen. Das wenige an Handgepäck wurde noch verloren, wenn scharfe Hiebe die tragenden Hände trafen. Danach mussten die Zuginsassen noch einen ca. 12 km langen Fußmarsch nach dem geschlossenen Ghetto Piaski antreten, das ca. 20 Kilometer südöstlich von Lublin lag und über keinen Bahnhof verfügte. Die Ankommenden glaubten auch zunächst an die ausgegebene Parole "Umsiedlung zum Arbeitseinsatz". Man hatte sich bewusst bei diesem Transport auf Volljuden beschränkt, die jünger als 65 Jahre waren, also zumindest theoretisch arbeitsfähig. Für die Frauen, die angeblich Pelze und Uniformen nähen sollten, gingen sogar zwei Waggons Nähmaschinen mit auf die Reise.

In dem Städtchen Piaski hielten sich außer den etwa 4000 polnischen Juden seit Februar 1940 eine Gruppe Stettiner Juden von 500 Menschen auf und 1941 brachten die Nazis hier zusätzlich noch 100 aus Krakau ausgesiedelte Juden unter, da Piaski zu dieser Zeit das einzige geschlossene Ghetto im Distrikt Lublin war. Schon damals lag die Sterblichkeit in Piaski unter den Ausgesiedelten bei 25 %. Als Hauptgrund wurden die "anormalen Wohnungsbedingungen" genannt. Schon in den Jahren 1940/41 bahnten sich in Piaski, wie auch in anderen Orten, in denen sich die aus dem Reich "Ausgesiedelten“ aufhielten, Konflikte zwischen den traditionellen polnischen Juden und den in viel größerem Maße progressiven deutschen Juden an, Konflikte, die sich zuspitzen sollten, als im Frühjahr 1942 größere Gruppen von deutschen Juden in Piaski eintrafen. Interviewte polnische Juden erinnern sich, dass die Deutsehen sie häufig mit Verachtung behandelt und in ihnen den Prototyp "des Ostjuden" gesehen hätten. Besonderen Ärger rief hervor, dass die Juden aus dem Reich wegen ihrer deutschen Sprache privilegierte Stellungen in den Ghetto-Institutionen einnahmen. Sie saßen im Judenrat, in der Sozialen Selbsthilfe, waren Mitglieder des Jüdischen Ordnungsdienstes und hatten damit gewisse Vorteile, was zu verschiedenen Auseinandersetzungen führte.

Die 50seitige Broschüre ist im Nauheimer Bürgerbüro, Weingartenstraße 46-50, 64569 Nauheim, Tel. 06152 639219, für 4,50 Euro erhältlich.