Jüdische  Mitbürger in Nauheim

 

Am 9. November 2008 enthüllte die Gemeinde Nauheim an der Hofmauer des Historischen Rathauses in der Hintergasse eine bronzene Gedenktafel mit den Namen der ehemaligen jüdischen Nauheimer Mitbürger.
Nachfolgend die Ansprache des Bürgermeisters:
 

 
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir erinnern heute an eine der dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte, an das Novemberpogrom vor 70 Jahren, in dem das nationalsozialistische Unrechtsregime die  deutschen Juden terrorisierte.

Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, um der Opfer zu gedenken, um sich dem Schrecken der Vergangenheit zu stellen und den daraus erfolgenden Verpflichtungen für die Gegenwart. Wir nehmen diesen Gedenktag zum Anlass, heute eine Bronzetafel zu enthüllen mit den Namen all der jüdischen  Nauheimer Menschen, die Opfer des Nazi-Terrors wurden und ihr Leben verloren.

Wir haben ganz bewusst den Seiteneingang des Historischen Rathauses gewählt. Zum einen bestand im daneben liegenden Haus Hintergasse 2 über viele Jahre der Betsaal der jüdischen Bürger, wo sie sich trafen und ihren Glauben lebten. Zum anderen lebten in dem Haus Menschen, die Opfer des Holocaust wurden. Das Historische Rathaus war Mittelpunkt der örtlichen Administration und der Partei. Auch von da gingen Verfügungen und Befehle und die Anordnung von Maßnahmen mit unmittelbarer Wirkung auf die jüdischen Menschen aus.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Gedenken bedeutet, die Vergangenheit wieder sicht- und greifbar zu machen. Selbst bzw. gerade für jene, die sie nicht aus eigener Anschauung erlebt haben. Dieses Gedenken bezieht sich nicht nur auf Millionen anonyme Betroffene, es konfrontiert uns mit unserer eigenen Geschichte in Nauheim. Konkrete Menschen mit Namen und Gesichtern, Mitbürger, die im Nauheim der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts lebten, waren die Leidtragenden dieses Regimes, dessen Terrors, aber auch der Duldung und Gleichgültigkeit ihrer nicht jüdischen Mitbürger.

Der Holocaust, er fand deshalb auch in unserer Nachbarschaft statt und niemand kann heute mehr sagen, dass man von all dem ja nichts gewusst habe. Daher ist die Enthüllung dieser Gedenktafel, die als äußeres Zeichen der Mahnung und  Erinnerung zu sehen ist, auch verbunden mit der Herausgabe einer Dokumentation über das Schicksal der jüdischen Menschen in Nauheim zur Zeit der Nazidiktatur. Dieses Werk wird in den nächsten Wochen der Öffentlichkeit vorgestellt.

Der Autor dieser Dokumentation, unser Nauheimer Mitbürger Karl-Heinz Pilz, hat in der Broschüre versucht, das persönliche Schicksal der Einzelnen darzustellen. Der Leidensweg unserer Nauheimer Juden ist darin festgehalten als Mahnmal der Unmenschlichkeit, des Hasses und der Gleichgültigkeit, wie sie eben im Deutschland dieser Jahre in weiten Teilen geherrscht haben. Der Inhalt macht betroffen ! Herr Pilz hat mit großer Akribie in den vergangenen 2 ½ Jahren geforscht und auch sehr viel freie Zeit aufgewendet. Hierfür unseren herzlichen Dank.

Wort und Bild als Zeugnisse rufen oftmals auch Beklommenheit hervor, sicher auch Ratlosigkeit. Diese Betroffenheit darf jedoch nicht die Frage nach den Schuldigen versperren wie es lange Zeit im Nachkriegsdeutschland geschehen konnte. Nur wer der historischen Wahrheit ins Auge blickt, kann aus der Geschichte lernen. Dabei geht es nicht um die individuelle Verurteilung der Täter oder um persönliche Schuldsprüche - dies war und ist in erster Linie Sache der Justiz. Mit der Dokumentation sollen vielmehr die Lebensumstände ergründet werden, die es möglich gemacht haben, dass ein solches Verhalten, eine solche Stimmung sich auch in unserer Region und auch in der Gemeinde Nauheim entwickeln konnte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was in jener Nacht vom 9. auf den 10. November vor nunmehr 70 Jahren geschah, war ein Menetekel. Ein deutlich sichtbares Zeichen für den Rassen- und Verfolgungswahn sowie die Brutalität der Nazis. Überall in Deutschland gingen Synagogen in Flammen auf, wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet und geplündert. Überall in Deutschland wurden jüdische Männer und Frauen tätlich angegriffen, verhaftet, ermordet  oder in  Konzentrationslager verschleppt. Die Verfolgung traf Menschen, die hier jahrzehntelang unbescholten gelebt hatten; Menschen, die wie alle anderen ihrem Tagewerk nachgingen; Menschen, die sich Verdienste um die kulturelle, wirtschaftliche und politische Entwicklung ihres Landes, ihrer  Gemeinde erworben hatten.

Was damals geschah, geschah vor aller Augen. Das NS-Regime zeigte sein wahres Gesicht, auch wenn es offiziell die Zerstörungen als Ausdruck, ich zitiere, "spontaner Empörung" oder "Ausbruch des Volkszorns" ausgab. Diese Aktion ging auf ausdrücklichen Befehl von ganz oben aus und wurde, wie dies bei einem straff organisierten Partei - und Staatsapparat möglich war, durchorganisiert über das ganze Land verteilt.
Ich komme nun wieder zu meiner eingangs getroffenen Feststellung zurück: Auch wenn die Nazi-Schergen von SA, SS und anderer Gruppen, hauptsächlich Beteiligte waren, so blickten viele deutschen Bürgerinnen und Bürger verblüfft, erschrocken, auch ängstlich, auf diese Auswüchse. Vor allen Dingen gab es eigentlich kein Gefühl der Anteilnahme, sondern eher eine gewisse lethargische bzw. fatalistische Reaktion. Im Grunde genommen war dies von den Machthabern auch erwartet und eingeplant; mit den Ereignissen des Novemberpogroms verschärfte sich die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis jedoch in radikaler Weise; es war ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Holocaust. Das Pogrom wirkte wie ein Schock auf die jüdische Bevölkerung, das ganze Ausmaß ihrer Bedrohung wurde jetzt  erst vielen Menschen klar. Emigration war bei einer ganzen Reihe von deutschen Juden das Ziel, doch die allermeisten der anderen, die es nicht schafften, rechtzeitig aus Deutschland und aus den nach Kriegsausbruch von Deutschen besetzten Ländern herauszukommen, wurden deportiert und brutal ermordet.

Der Holocaust, meine sehr verehrten Damen und Herren, war ein Zivilisationsbruch ohnegleichen. Das ganze Ausmaß der Verfolgung von Menschen, die alleine deshalb verfolgt wurden, weil sie Juden waren, sowie die detaillbesessene Planung der Mordmaschinerie in den Vernichtungslagern, sie übersteigen jedes Vorstellungsvermögen. Angesichts dieser exzessiven Gewalt, angesichts dieses unermesslichen Leides können wir nur unserer Scham und unserer Trauer Ausdruck verleihen.

Nach dem Untergang des Dritten Reiches vermochte sich wohl kaum jemand vorzustellen, es könne je wieder jüdisches Leben in Deutschland geben. Und doch sind Jüdinnen und Juden in ihre Heimat, in ihre alten Wohnorte zurückgekehrt oder später nach Deutschland eingewandert. Doch haben sie mit den Jahren ihre Gemeinden wieder aufgebaut und neue Synagogen errichtet. In vielen Orten unseres Landes, beispielsweise in Darmstadt und in Wiesbaden, existieren heute erneut lebendige jüdische Gemeinden, in vielen Orten tragen Jüdinnen und Juden viel zum religiösen und kulturellen Leben bei. Diese Entwicklung hängt natürlich auch damit zusammen, dass sich Deutschland nach 1945 grundlegend gewandelt hat. Unser Land hat erfolgreich einen neuen Weg beschritten und eine stabile Demokratie aufgebaut, die die Menschenrechte wahrt.

Dennoch, meine sehr verehrten Damen und Herren, gibt es wieder Anzeichen von Antisemitismus in unserem Land, es gibt rechte Parteien und Bewegungen, die den Holocaust leugnen und relativieren. Es gibt politische Gruppierungen, die auf die zugegebenermaßen schwierigen Fragen unserer Gegenwart und die herrschenden Verhältnisse sehr einfache Antworten geben. Ihnen fehlt oftmals noch die Stammwählerschar, aber sie schaffen es, besonders in den neuen Bundesländern, Protestwähler zu mobilisieren. Besonders bedenklich ist es, dass Neonazis Jugendliche zu ködern vermögen.

Auch hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen wir den Anfängen wehren und versuchen, diesen jungen Menschen den Halt zu geben, den sie wohl in der Gesellschaft, der Familie so nicht gefunden haben. Hier geht es nicht nur um die Verbesserung der sozialen Verhältnisse in unserem Lande, sondern um Gerechtigkeit, um die Chance, sich in der Schule, in der Ausbildung zu qualifizieren, sich zu bewähren und das Selbstwertgefühl zu stärken. Hier geht es auch darum, diesen jungen Menschen zu zeigen, was im Namen Deutschlands vor 80 Jahren als Unglück über die Völker Europas herein brach. Diese Zeit ist für die meisten jungen Menschen längst Geschichte. Und die Hintergründe dieser Geschichte, weshalb so etwas überhaupt geschehen konnte, die werden oftmals, und das muss man bedauernd feststellen, im Unterricht der weiterführenden Schulen nur noch am Rande behandelt. Wenn ich, wie jüngst in einem Magazin dargestellt, erfahre, dass viele 18-Jährige in den neuen Bundesländern kaum noch Informationen über die DDR, die nun einmal Fakt war, vermittelt bekommen, dann ist es mir schon Angst und Bange, wie Geschichtsverständnis in Deutschland in den Lehrplänen behandelt wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Gedenken bedeutet, Vergangenheit wieder sicht- und greifbar zu machen. Gedenken heißt, das Leid, den Schmerz und das Grauen zu verdeutlichen. Gedenken heißt aufzuzeigen, wie das NS-Regime funktionierte. Sich mit Geschichte zu beschäftigen bedeutet demnach, Fragen zu stellen, Fragen nach dem, was damals geschah, aber auch Fragen, die für unsere Zeit relevant sind. Nur so können wir unsere Gedenkkultur erhalten. Nur so können wir Kenntnisse über die Vergangenheit an junge Menschen weitergeben, für die die NS-Zeit bereits Geschichte ist, fast so weit weg wie der 30-jährige Krieg.

Die Beschäftigung mit der NS-Zeit macht deutlich, wie schnell Menschenrechte, Demokratie und ein friedliches Miteinander gefährdet sein können. Sie macht deutlich, dass die Grundlagen unserer Zivilisation nur gewahrt werden, wenn es immer Menschen gibt, die sie achten und für sie eintreten. Sie macht deutlich, wie schnell eine schweigende Mehrheit entsteht, aber auch, dass sich Menschlichkeit immer bewahren kann.

In diesem Sinne bedanke ich mich sehr herzlich für ihr Erscheinen, für dieses stille Gedenken an all diejenigen Menschen, die Opfer dieser Gewaltherrschaft wurden und auch an unsere ehemaligen jüdischen Nauheimer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die keiner von uns persönlich kannte. Ihr Leben, ihr Wirken in der Gemeinde, ihr Schicksal mit dem schrecklichen Ausgang, wird uns mit der erscheinenden Dokumentation vor Augen geführt. Wir können uns in die Geschehnisse der damaligen Zeit nicht wirklich hinein versetzen. Aber: Dies ist unsere Pflicht und letztendlich auch das was übrig bleibt:

Wir nehmen Anteil an ihrem Schicksal !

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

 


Heimat- und Museumsverein Nauheim     Der 9. November in der Deutschen Geschichte