Ein Zeitzeugenbericht aus dem Jahre 1937 von Heinrich Dammel, Reichsbahn-Bauinspektor a.D.:

"Dorflinde und Dorfbrunnen zu Nauheim".

Wer kennt nicht das schöne Deutsche Volkslied: "Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum." Fast überall, wo Deutsche bei fröhlicher Stimmung versammelt sind, wird dieses Lied gerne gesungen. Dorflinde und Dorfbrunnen gehören nun einmal zusammen. Auch in Nauheim gab es eine alte Dorflinde und ein Dorfbrunnen war in früherer Zeit auch vorhanden. Wenn die Linde auch nicht vor dem Tore stand, so war sie aber doch vor dem alten Rathaus.

Nachdem der Deutsch-Französische Krieg vom Jahr 1870/71 glorreich beendet war, wurde im Jahre 1874 auf Anregung des Kriegervereins von Nauheim durch die Ortsbehörde beschlossen, zum Gedenken an die Kriegshelden, sowie an den siegreichen und ruhmvollen Ausgang dieses Krieges, auf dem Platz vor dem hiesigen alten Rathaus eine Friedenslinde zu pflanzen. Gleichzeitig bewilligte der Gemeinderat dem Kriegerverein einen Kostenbeitrag von 50 Gulden, sowie noch weitere 10 Gulden zum Ankauf und Verteilen von Brezeln für die Schulkinder. Durch den Gemeindeförster Jüngling wurde aus dem Bestand des Nauheimer Oberwaldes bei Mörfelden ein Lindenbäumchen geliefert. Die Anpflanzung wurde von dem Kriegerverein auf Sonntag, den 22. März 1874, am Geburtstag des damaligen Deutschen Kaisers Wilhelm I., auf dem kleinen Platz vor dem Rathaus festgesetzt.

Am Nachmittag erfolgte die Aufstellung eines Festzuges mit Musikkapelle, an dem sich der Kriegerverein, die Schulkinder, sowie die Einwohnerschaft von Nauheim beteiligten. An der Spitze des Zuges war auf einem festlich geschmückten Wagen die kleine Linde aufgestellt und dieser Wagen wurde von den Landwirten Bernhard Jüngling und Georg Kaul gefahren. Unter dem Jubel der ganzen Bevölkerung bewegte sich der Festzug mit Musikbegleitung durch sämtliche Ortsstrassen bis zur Weihestätte am Rathaus, wo selbst die feierliche Anpflanzung vorgenommen wurde. Die Weiherede hielt der damalige Pfarrer Dr. Linss von Nauheim. Während der Anpflanzung der Linde sangen die Festteilnehmer unter Musikbegleitung das Lied: "Die Wacht am Rhein". Hierauf hielt Bürgermeister Mischlich eine Ansprache und übernahm die Linde in den Schutz der Gemeinde. Da die Feier der Anpflanzung hiermit beendet war, bewegte sich dann der Festzug in das Vereinslokal von Karl Bernhard Vogel, wo selbst bis zum Abend eine musikalische Unterhaltung stattfand. Die Feierlichkeit am Abend begann um 8 1/2 Uhr mit einem Fackelzug, welcher durch die Ortsstrassen bis zum Vereinslokal durchgeführt wurde. Alsdann spielte die Musik den großen Zapfenstreich, welcher mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Anschließend fand hier noch Tanzbelustigung statt, die von älteren und jüngeren Leuten gut besucht war und die bei fröhlicher Stimmung bis zu den Morgenstunden anhielt. Die Feierlichkeiten, die einen schönen Verlauf nahmen, haben hiermit ihren Abschluss gefunden. Nach kurzer Zeit wurde die kleine Friedenslinde zum Schutze gegen etwaige Beschädigungen mit einem etwa 2 Meter hohen Lattengitter umgeben. Aus dem Bäumchen hat sich nach Jahren ein starker Baum entwickelt, der eine Stammhöhe von 5,20 m und eine Stärke von 60 cm, sowie einen Umfang von 1,80 m erreichte. Mit der schönen und großen Baumkrone beträgt die Gesamthöhe etwa 12 - 13 m, sodass der kleine Rathausplatz im Sommer wohltuend beschattet wurde.

Die alte Linde ist eine Zierde vor dem Rathaus und ist gar nicht mehr wegzudenken. Der bei der Linde vorhandene alte Dorfbrunnen war sehr beliebt. Er lieferte das beste Trinkwasser und wurde viel benutzt. Fast täglich trafen sich die jungen Mädchen mit dem Wasserkrug an dieser lieblichen Stätte, scherzten, plauderten und tauschten mancherlei Neuigkeiten und Geheimnisse aus. Ob das gute Trinkwasser allein die Ursache war, welche manche Dorfschöne abendlich an den Brunnen zog, oder ob ein Stelldichein erhofft wurde, ist jetzt nicht mehr aufzuklären. Der Brunnenschacht, der etwa 1 m hoch über den Erdboden geführt und mit einem Holzdeckel versehen war, war zum Sitzen und Ausruhen sehr geeignet. Von den jungen Burschen, die ja öfters an den Sommerabenden hier zusammen kamen, um Unterhaltung und Erholung zu suchen, wurde dieses Ruheplätzchen auch ausgiebig benutzt, sodass die schönen Worte des Liederdichters "Komm her zu mir Geselle, hier find'st Du Deine Ruh" ihre Wirkung nicht verfehlt haben.

Nicht nur die jungen Leute, sondern auch die älteren Einwohner haben hier gerne geweilt und sich gut unterhalten, wobei über die Dorfneuigkeiten, sowie über sonstige Ereignisse eifrig geplaudert wurde. Manches schöne Volkslied kam hier zu Gehör, zumal in früheren Jahren auch der Gesangverein von Nauheim längere Zeit seine Singstunde in dem oberen Rathaussaal abhielt. Als nach vielen Jahren die Linde größer wurde, drangen ihre Wurzeln bis in den Brunnenschacht hinein, wodurch das Wasser verunreinigt und nicht mehr genießbar wurde. Der Brunnen wurde ungefähr im Jahre 1895 beseitigt und ein Bohrbrunnen wurde daneben neu erstellt. Die Bewohner von Alt-Nauheim, welche hauptsächlich den Brunnen benutzten, haben sich später nach und nach eigene Brunnen herstellen lassen, sodass der Brunnen an der Dorflinde entbehrlich wurde.

Weitere Dorfbrunnen befanden sich noch am Anfang der Waldstraße vor der Schulgartenmauer, ferner an dem freien Platz am Anfang der Bahnhofstraße, der seit dem Jahr 1933 Adolf-Hitler-Platz genannt wird. Der vierte Brunnen, der im Jahre 1875 erbaut wurde, hatte seinen Standort vor dem Volz'schen Garten am Anfang der Weingartenstraße. Diese vier Brunnen haben in früherer Zeit den Nauheimer Bewohnern das Trink- und Wirtschaftswasser geliefert. Bei den Brunnen am Rathaus und an der Waldstraße waren lange Zeit hölzerne Brunnentröge vorhanden, woraus auch das Vieh getränkt wurde. Auch bei Feuergefahr wurde das Wasser, wenn erforderlich, zum Löschen benutzt und zwar nur dann, wenn im Schwarzbach nicht genügend Wasser vorhanden war. Da sich später immer mehr Einwohner eigene Brunnen herstellen ließen, so wurden die vier alten Gemeindebrunnen entbehrlich und beseitigt. Die Brunnen am Rathaus an der Waldstraße und am Adolf-Hitler-Platz wurden im Jahre 1912 und derjenige an der Weingartenstraße 1920 zugefüllt und außer Betrieb gesetzt. Mit der Beseitigung der alten Brunnen fand ein Stück alte Dorfgeschichte ihr Ende.

Im Jahre 1929 wurde in Nauheim die neue Wasserleitung gebaut. Von diesem Zeitpunkt an erfolgte die Wasserversorgung vom Wasserwerk zu Groß-Gerau. Einige Hausbesitzer haben jedoch ihre alten Brunnen noch beibehalten. Während die vier alten Dorfbrunnen schon lange der Vergangenheit angehören, steht die alte Dorflinde noch stolz und stark auf ihrem seit 65 Jahren eingenommenen Standort. Sie hat schon manchen schweren Gewittern, Stürmen und sonstigen Unwettern getrotzt, hat alle guten und schlechten Zeiten mit den Einwohnern geteilt und wir wünschen nun, dass ihre Zweige uns noch lange Zeit mit ihrem sommerlichen Blütenduft und dem kühlenden Schatten beglücken werden, und wenn im Sommer in früher Morgenstunde in Gottes freier Natur die Vöglein vom Lindenbaum ihre Lieder singen, so ist es ein Genuss, den lieblichen Sängern hier zu lauschen und dieses schöne Plätzchen ist kostbares Gut, und dieses kostbare Gut heißt "Heimat". Möge uns die alte Dorflinde als Zierde unseres Dorfes, sowie zur Schönheit unseres geliebten Deutschen Vaterlandes noch lange Zeit erhalten bleiben.

Vorstehende Darstellung gründet sich auf amtliche Unterlagen der Gemeinde Nauheim, auf die persönlichen Erlebnisse und Aussagen meines Schwiegervaters, des achtzigjährigen Wagnermeisters Adam Schneider I., sowie auf die eigenen Erlebnisse und Erinnerungen des Unterzeichneten.

Nauheim im November 1937 - gez. Heinrich Dammel I., Reichsbahn-Bauinspektor a. D.

Nach dem II. Weltkrieg, im Jahre 1947, wurde die Linde von einem amerikanischen Truck der Besatzungstruppen umgefahren. Eine Neuanpflanzung einer Sommerlinde erfolgte erst 1987. Ein Brunnen wurde im Zuge der Sanierung des Historischen Rathauses im Jahre 1988 errichtet.

 Auszug "Aus der Nauheimer Chronik I" S. 287 ff; Verfasser: Harald Hock